Einsam = unglücklich? Fangen wir vorne an: wenn wir versuchen den emotionalen Zustand des vereinzelten Menschen in Worte zu fassen, so fallen uns zumeist zwei Begriffe ein: Allein-sein und Einsamkeit. So bezeichnet das Allein-sein mehr oder weniger neutral die momentane Abwesenheit von anderen Menschen: man verbringt einen Abend allein, hält sich allein in seinem Zimmer auf, fährt allein in den Urlaub.

Allein-sein und Mit-sein

In allen dieser genannten Fälle gehen wir selbstverständlich davon aus, dass der Zustand des Allein-seins durch eine baldige Kontaktaufnahme und ein erneutes Mit-Sein mit anderen Menschen wieder beendet wird: man trifft vor dem Kino unerwartet einen Freund, Besuch klopft an die Zimmertür, im Urlaub wird eine neue Bekanntschaft geschlossen. In manchen Fällen ist uns das Alleinsein sehr willkommen und manchmal langweilt es eher. Da wir aber den Zustand selbst beenden können, scheint er nicht weiter bedrohlich und erwähnenswert. Um es mit den Worten Martin Heideggers in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ auszudrücken:

[Denn] auch das Alleinsein […] ist Mitsein in der Welt. Fehlen kann der Andere nur in einem und für ein Mitsein. Das Alleinsein ist ein defizienter Modus des Mitseins, seine Möglichkeit ist der Beweis für dieses. Das faktische Alleinsein wird andererseits nicht dadurch behoben, daß ein zweites Exemplar Mensch »neben« mir vorkommt. Auch wenn diese und noch mehr vorhanden sind, kann (ich) allein sein. Das Mitsein und die Faktizität des Miteinanderseins gründet daher nicht in einem Zusammenvorkommen von mehreren »Subjekten«. Das Alleinsein »unter« Vielen besagt jedoch bezüglich des Seins der Vielen auch wiederum nicht, daß sie dabei lediglich vorhanden sind. Auch im Sein »unter ihnen« sind sie mit da; ihr Mitdasein begegnet im Modus der [temporären] Gleichgültigkeit und Fremdheit. (S.127f.)

Einsamkeit

Der Zustand der Einsamkeit allerdings wird in den seltensten Fällen als rein temporäre Gleichgültigkeit oder Fremdheit empfunden. Ihm haftet zumeist der Ruch des Melancholischen oder sogar der depressiven Verstimmung an. Und tatsächlich kann die Einsamkeit bedrohliche Züge annehmen. Im Gegensatz zu einem selbst gewählten allein-sein auf Zeit, scheint uns der Einsame oft nicht mehr Herr über sein soziales Schicksal. Er wirkt wie ein bedauernswerter Ausgestoßener, dessen erzwungene Lebensweise uns nicht kontaminieren darf: dem Alleinigen wenden wir uns eher zu, die Einsamkeit dagegen macht uns Angst und wird eher gemieden.

Macht uns Einsamkeit unglücklich?

Doch macht uns diese Einsamkeit stets und immer unglücklich? Hier muss deutlich unterschieden werden. Einsam ist, wer eine lange Zeit allein gewesen ist und unter diesem Zustand bereits leidet. Sein Selbstwertgefühl leidet, er kann sich nicht mehr vorstellen, dass dieser Zustand jemals wieder enden sollte. In diesem Fall haben wir es mit einer äußerst negativen Form einer existentiellen Einsamkeit zu tun.
Unzweifelhaft führt uns die Einsamkeit von andern Menschen fort. Sie kann uns jedoch in ihrer schöpferischen Ausprägung auch – über den Umweg einer Erkundung unseres Selbst – wieder zu ihnen hinführen.

Der Einzelne und die Anderen

Tatsächlich ist der Mensch ein soziales, vergesellschaftetes Wesen: Er braucht andere Menschen, doch besteht in dieser grundsätzlich als positiv empfundenen Gemeinschaftlichkeit die Gefahr des Selbstverlustes: in der Gemeinschaft stehen wir unter dem Mandat der Anderen. Diese „Anderen“ sind in diesem Zusammenhang beliebige, unkonkrete andere Menschen, die gerade „da sind“. Sie werden daher gerne oft als „man“ bezeichnet.

Das Man

Dieses Man hält uns Heideggers Überlegungen zufolge deswegen in einem Zustand der Unfreiheit, weil es uns nicht erlaubt, gedanklich zu uns zu kommen. Anders ausgedrückt: das Man hält uns im Alltag von uns selbst fern, indem es als die Totalität der Anderen erscheint. In dieser Seinsweise verschwimmt unser unteilbares Selbst mit dem der Anderen zu einer amorphen Masse aus zu übernehmenden Meinungen, zu diskutierenden Banalitäten und aufgewertetem Gerede aller Art.

Hier nochmal in Heideggers eigenen Worten: „Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Nicht nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen liegt. Und weil das Man mit der Seinsentlastung dem jeweiligen Dasein ständig entgegenkommt, behält es und verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft.“4

Die Einsamkeit als Abtrennung des Daseins aus diesem Man erscheint zwar bedrohlich. Und tatsächlich empfinden wir bei einem bewussten Schritt in die selbstgewählte existenzielle Einsamkeit zunächst Angst. Doch wir gewinnen uns selbst zurück, denn wir erfahren – unserem Leben vorauslaufend – unsere Endlichkeit und die offenbare Sinnlosigkeit unseres Lebens im Angesicht des Todes.

Doch gerade die Erfahrung der Sinnlosigkeit führt uns erfüllter zurück in das Mit-Sein mit den Anderen. Wir können und dürfen nun endlich befreit und selbstgewählt Sinn setzen, wir können unser Leben also zum ersten Mal in die eigenen Hände nehmen.

Macht uns die Einsamkeit also unglücklich? Nein, nicht zwangsläufig. Wenn wir die Einsamkeit als das Extrem des Allein-seins verstehen, das uns eine kreative Auseinandersetzung mit unserer Existenz ermöglicht, kann in ihr sogar der Schlüssel zum Glück liegen.

 Haben sie noch Lust weiterzulesen? Oder besser noch, weiterzuhören?
Hier geht es zum WDR5 Beitrag von Carolin Courts aus der Reihe Neugier genügt, der sich mit dem Thema beschäftigt:  „Einsamkeit und Alleinsein“