In seinem Roman Underworld beschreibt der amerikanische Autor Don DeLillo die Katastrophenphantasien eines dreizehnjährigen Jungen in der Pubertät. Dieser ist fest davon überzeugt, mittels eines magischen Fernblicks Flugzeuge vom Himmel stürzen lassen zu können:


Ein Flugzeug in der Luft war eine allzu starke Provokation, um sie zu ignorieren er glaubte, er könne fühlen, wie das Objekt sich selbst danach sehnte, einfach zu bersten. Er brauchte sich nur das Brandbild herbeizuwünschen, und schon würde das Flugzeug in Flammen aufgehen und zerschellen.
Seine Schwester sagte immer zu ihm: Na los, jag es in die Luft, das will ich sehen, wie du dieses Flugzeug mit allen zweihundert Leuten an Bord aus der Luft holst, und es erschreckte ihn, jemanden so reden zu hören, und es erschreckte auch sie, denn sie war sich nicht vollkommen sicher, ob er es nicht doch könnte.

Eine Pubertät im Rahmen des Normalen?!

Woher stammen die mehr oder weniger deutlichen Zerstörungs- und Tötungsphantasien eines Jungen in der Pubertät, der unter durchschnittlichen familiären und sozialen Bedingungen aufgewachsen ist und dessen Pubertät im Rahmen des Normalen verläuft?
Nehmen wir einmal an, die Pubertät selbst läßt in dem Jungen die oben beschriebenen Gedanken reifen. So könnte ein gedankliches Zerstörungspotential existieren, welches jeden Heranwachsenden (männlichen Geschlechtes) in existenzieller Weise betrifft: Im Wesen der Pubertierenden wäre dann bereits ein Zerstörungsdrang angelegt. Dieser könnte sich in ausgelebten Aggressionen der einen oder anderen Art – inklusive autoaggressiver Handlungen – niederschlagen.

Es ist riskant, unmoralisch und viel zu gefährlich. Bin dabei!

Eine solche Annahme würde einige für dieses Alter typische Faszinationen und Verhaltensweisen erklären. Zum Beispiel das Interesse an Risikosportarten, die Kultivierung morbider Gedankenspiele, exzessiver Drogengebrauch oder unreifes sexuelles Verhalten. Der Begriff des „unreifen sexuellen Verhaltens“ bezieht sich an dieser Stelle auf die Wahrnehmung des Partners als eine beliebige Körperlichkeit. Die Pubertierenden können das Gegenüber zu diesem Zeitpunkt noch nicht als einzigartiges Individuum wahrnehmen.

Pubertät – eine Baustelle im Gehirn

Die Pubertät ist eine Phase der Ausreifung des geistigen Werthorizontes. Sie verläuft in aufeinander folgenden, klar unterscheidbaren Schritten. In diesen Phasen beschäftigt sich der Pubertierende mit existentiellen Fragen. Aggression in Wort und Tat fungiert hierbei als Bewältigungshilfe, die zunächst einmal wertfrei als solche betrachtet werden sollte.
Natürlich geht es nicht darum, aggressive Handlungen zu verteidigen, oder den Jugendlichen die Einschätzung von „richtig“ oder „falsch“ abzusprechen. Es geht vielmehr darum, die individuelle Entwicklung der geistigen Person nachzuvollziehen. So ergeben sich möglicherweise vier Schritte der Reifung, die individuell durchlaufen werden müssten:

Die Präpubertäre Phase

Kinder wollen die Welt ihrer Eltern kennen lernen. Die Eltern sind dabei unsterblich. In dieser ersten Phase ist der Heranwachsende in der Welt seiner Eltern geborgen. Die Jungen akzeptieren ihre Eltern, die ihnen die Welt erklären und wichtige Werte vermitteln.

Die erste Phase der Pubertät

In dieser Phase kommt es zu einem Aufbegehren gegen den elterlichen Wertekosmos. Die Pubertierenden wollen die Welt ihrer Eltern zerstören. Ihre eigene Person wird dabei als unsterblich und allmächtig begriffen. Aus dieser Allmacht heraus erfolgt die Forderung nach einer Neuformung der Welt im Ganzen. Die Welt wird in dieser Phase jedoch als etwas erfahren, was sich im Besitz der Vorgängergeneration befindet. Dieser muss sie zunächst entrissen werden.
Während der Körper des Pubertierenden heranreift, bleibt die Psyche zunächst mit einem fremd werdenden erwachsenen Körper zurück.
Aus dieser Phase heraus lässt sich nicht nur die Faszination der Jugendlichen für Katastrophenfilme und -szenarien aller Art, sondern auch die Todesversessenheit unterschiedlichster Jugendkulturen erklären. Nebenbei bemerkt: in Laurence Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung entspräche diese Phase dem Erreichen der Stufe 3: die Identifikation mit der Gruppe gleichaltriger, die durch dieselbe Ablehnung geprägt werden, wird als oberstes Ziel verfolgt.

Zweite Phase der Pubertät

Die Heranwachsenden wollen die Welt von ihren Eltern übernehmen. Die Eltern werden dabei als sterbliche Konkurrenten erkannt.
Die Pubertät wird überwunden, indem der Jugendliche seine Verantwortung in der Welt erkennt und wahrnimmt. Das ursprünglich von Konkurrenzdenken und Ablehnung geprägte Verhältnis verwandelt sich in Kooperation. In Laurence Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung entspräche diese Phase dem Erreichen der Stufe 4: die Integration in die geregelte Gesellschaft wird als erstrebenswertes Ziel erkannt.
Mit der Übernahme von Verantwortung wird eine Ablösung von der elterlichen Dominanz vollzogen. Die Eltern werden nicht mehr als Konkurrenten um den Besitz der Welt verstanden, sondern ihre schicksalhafte Sterblichkeit wird erkannt. Die Ablehnung der Elterngeneration wird durch ein Gefühl von Mitleid und einen ersten Reflex von Solidarität ergänzt, der Begegnungshorizont nähert sich der Augenhöhe an.

Der junge Erwachsene

Die nun erwachsen gewordenen Jugendlichen wollen die Welt für sich und ihre Kinder bewahren. Ihre eigene Person wird dabei als sterblich erkannt. Es erfolgt ein Friedensschluss mit der Vorgängergeneration. Die ursprünglich nur als Anlage vorhandenen geistigen Ausrichtungen als liebender, verantwortungsvoll handelnder und sein Schicksal erkennender und akzeptierender Mensch haben sich entfalten können. In Laurence Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung entspräche diese Phase dem Erreichen der Stufe 5 und 6, die Moral richtet sich auf überindividuelle Ziele.

Zurück zum Anfang: all must be destroyed.

Die sich aufdrängenden Zerstörungsphantasien, wie sie im Ausgangstext beschrieben worden sind, verweisen nach diesem Modell auf das Verhaftetsein des Protagonisten in der ersten pubertären Phase.
Die Destruktivität muss dabei als eine existenzielle Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Welt verstanden werden. Indem sich der Jugendliche im wahrsten Sinne des Wortes „Raum“ verschaffen möchte, ist der in Reifung begriffene Werthorizont durch den symbolischen Mord an den (elterlichen) Vorbildern besonders gefährdet. Die konkrete Bedrohung erfolgt aus einem kollektiven Denken und Werten heraus, das besonders in dieser Phase Halt und Orientierung leisten kann. Und hier gilt wie zu allen Zeiten, dass die einfachsten (Schein)Werte stets die attraktivsten sind.

Die nur oberflächlich durch religiöse Motivation zu erklärenden Grausamkeiten eines IS oder jeder anderen terroristischen Organisation, finden hierin möglicherweise ihr Fundament. Denn die Heilsversprechen des religiösen Fundamentalismus entsprechen fatalerweise dem Denken eines Pubertierenden: das Heil und die neu zu gestaltende Welt können nur auf den Trümmern der Alten Welt gedeihen. Und je vollkommener und radikaler diese in Scherben fällt, desto glänzender wird die neue Welt sein – man denke hier beispielsweise an den Vandalismus mit dem vorislamische Kunstwerke von Kämpfern des IS zerstört werden.

Geistige Reife vs andauernde Pubertät

Bei den oben skizzierten Phasen handelt es sich nicht um konkrete, in objektiver Zeit zu bemessende Altersabschnitte im Leben eines Mannes. Auch ein Mann, dessen Körper die Phase der Neustrukturierung längst hinter sich gelassen hat, kann ein Leben lang im existenziellen Sinne ein Pubertierender sein. Denn die körperliche Reifung kann die Reifung der geistigen Person nur anstoßen. Die Vollendung der geistigen Reifung ist das Produkt einer existenziellen Auseinandersetzung mit der Welt. Sie basiert auf Entscheidungen und Handlungen, die zur Ausformung eines Werthorizontes führen. Wird der Pubertierende nicht durch Vorbilder und Erziehung in die Lage versetzt sich selbst zu einem verantwortungsbewusst Handelnden zu entwickeln, besteht die Gefahr, dass kollektives Denken das individuelle Denken ersetzt und die geistige Person nicht zur Entfaltung kommen kann.

 

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